Allahs Feuersturm

Allahs Feuersturm

12,90 € inkl. MwSt

 

ISBN 978-3-9816055-2-5

Was dieser mitreißende und ungemein spannende Roman heute noch als eine warnende Horror – Vision beschreibt, kann morgen schon zur Wirklichkeit werden!

Allahs Feuersturm!

Produktbeschreibung

Eigentlich ist Sarah ja nur für einige Urlaubstage zum Lago Maggiore gefahren. Aber schon bald gerät die deutsche Journalistin mitten in dieser wunderschönen Berg- und Seenlandschaft in den Sog eines Verbrechens, aber auch in den Bann von Commissario Luca Foscari.

Es entsteht aus diesem „einfachen“ Mordfall eine Kette von Ereignissen, die weit über die italienisch-schweizerische Grenzregion in weltweite Konflikte von Geheimdiensten hineinführt.

Der Autor Sigi Sternberg führt uns mit seinem neuen Roman so Schritt für Schritt in eine Welt, in der alle unsere Ängste, Befürchtungen und die Warnungen vorausschauender Politiker Wirklichkeit zu werden scheinen.

„Wir wissen, dass Organisationen wie al Quaida versuchen, sich Atomwaffen zu beschaffen“, sagte US-Präsident Barack Obama.

Ist dieses Szenario, in dem gewissenlose Geldgier und extremer religiöser und politischer Fanatismus wie Zahnräder ineinandergreifen, noch aufzuhalten?

Was dieser mitreißende und ungemein spannende Roman heute noch als eine warnende Horror-Vision beschreibt, kann morgen schon zur Wirklichkeit werden:

Leseprobe

MONTAG

Ferienhaus im “Parco Belmonte”

Lago Maggiore

biep – biep – biep

„Herrgott!“

Sarah fuhr aus dem Kissen hoch, in das sie sich gerade eben noch einmal gemütlich vergraben hatte, um ganz allmählich in den neuen Tag hineinzugleiten.

biep – biep – biep

Wahrscheinlich wieder diese lästige Meute aus der Redaktion, die irgendetwas nicht finden konnte. Wann würden die endlich begreifen, dass sie jetzt in ihrem längst überfälligen Urlaub war?

Dreimal hatte sie ihn schon verschieben müssen, weil wieder eine ach so wichtige Story dazwischen kam…

„Sarah, Schatz, du musst das unbedingt noch bringen. Es ist doch sonst keiner da, der das so gut machen könnte wie du!“

biep – biep – biep

Fluchend tastete sie vom Bett aus auf dem Boden nach dem Handy.

„Warum habe ich das blöde Ding bloß mitgenommen?“, fuhr es ihr durch den Kopf, während sie schlaftrunken die achtlos auf den Boden geworfene Kleidung vom Vortag durchwühlte.

Da lag der kleine Quälgeist ja!

„Ja, wer ist da?“

„Buon giorno, du Schlafmütze! Ich bin’s, Thomas. Hast du schon einen Blick nach draußen geworfen? Der Himmel ist tiefblau, die Sonne scheint – weit und breit ist keine Wolke mehr zu sehen! Wir treffen uns also in einer Stunde an der Marina, wie abgemacht.“

Bevor sie noch antworten konnte, hatte Thomas aufgelegt.

„Ja, richtig!“ Jetzt fiel es ihr wieder ein, dass sie gestern Abend im Restaurant „Tre Ré“ verabredet hatten, sich heute am See zu treffen, um Wasserski zu laufen – falls das Wetter wieder besser wäre.

Noch nie hatte sie solche Regenmassen erlebt! Unaufhörlich hatte es in den vergangenen zwei Tagen vom Himmel geschüttet.

Monsun in den Alpen!

Der Lago Maggiore war bis runter auf die Wasseroberfläche mit tiefschwarzen Regenwolken verhangen, aus denen es ununterbrochen wie aus Eimern goss.

Die Straßen waren zu reißenden Wildbächen mutiert, so schossen die Wassermassen von den Bergen herab. Und das ausgerechnet jetzt, wo sie – verflixt noch mal – endlich ihren Urlaub hatte!

Gestern Abend war sie schon kurz davor gewesen, ihre Sachen zu packen und von Mailand aus zu ihrer Freundin Jo nach Ibiza zu fliegen. Jo hatte sie in den letzten Wochen ständig damit genervt, ihren Urlaub gemeinsam dort zu verbringen. Doch Thomas hatte steif und fest behauptet, das Unwetter sei bereits so gut wie vorbei, und der kommende Tag würde wieder schön werden. Alle am Tisch hatten sich vor Lachen geschüttelt über den optimistischen „Wetterfrosch“. Keiner schenkte seiner Prognose Glauben.

Sarah schob mit der linken Hand den Vorhang zur Seite – Thomas hatte Recht!

Lago Maggiore

Nun hatte sie es doch geschafft. Sarah steuerte den offenen „Z4“ gekonnt durch die scharfen Kurven, die sich schier endlos aneinandergereiht von Brezzo bis Castelveccana hinzogen.

Paul hockte zusammengesunken und völlig apathisch neben ihr im Beifahrersitz. Die kalte Dusche und der starke Kaffee hatten bei ihm noch keinerlei nennenswerte Wirkung gezeigt.

Schon die ganze Woche ging das so.

Jeden Abend betrank er sich und war am nächsten Tag vor Mittag nicht ansprechbar. Seine „San Francisco 49er“ – Baseballkappe tief ins Gesicht gezogen, die Sonnenbrille auf der Nase, schwieg er eisern vor sich hin.

Sarah gab Gas. Sie hasste es, zu einer Verabredung zu spät zu kommen, doch sie hatte Paul nur sehr mühsam zum Aufstehen bewegen können. Als alles Zureden nichts half, hatte sie kurzerhand seine Bettdecke weggerissen und ihm einen Zahnputzbecher kaltes Wasser über den Pyjama geschüttet. Danach stand er zwar augenblicklich neben dem Bett, aber seitdem hing der Haussegen nachhaltig schief.

Wenige Minuten nach acht kam der schwarze Sportwagen auf dem Parkplatz unmittelbar vor dem Yachtgebäude zum Stehen.

Mit einem flüchtigen Blick registrierte Sarah, dass Pauls Gesichtsfarbe, die schon seit Tagen recht fahl wirkte, jetzt eindeutig in Richtung Weiß tendierte.

Ächzend stemmte er sich aus dem tiefergelegten Wagen, und während sie das Verdeck schloss, zündete er sich seine dritte Zigarette an diesem Morgen an.

Sie überquerten eine kleine Straße und betraten das Yachtgebäude. In mehren Etagen waren hier die Motorboote der privaten Eigentümer eingelagert. Ein Anruf genügte, und zum vereinbarten Zeitpunkt lagen die Boote fertig aufgetankt am Steg.

Dort war Thomas bereits damit beschäftigt, die Ausrüstung für den Wasserski zurechtzulegen, als die beiden sein Boot erreichten.

„Na, hab‘ ich euch zuviel versprochen?“, begrüßte er sie mit strahlendem Gesicht und zeigte mit einer Hand zum Himmel.

„Dieser Mann sieht einfach blendend aus“, fuhr es Sarah durch den Kopf, als er zu ihnen auf den Steg sprang. Nur mit dunkelblauen Shorts und Bootsschuhen bekleidet, den trainierten Oberkörper kräftig gebräunt, die blonden Haare modisch mittellang und nicht in dem albernen Einheitsglatzenschick, der immer noch „In“ zu sein schien. Seine wasserblauen „Paul – Newman – Augen“ strahlten sie an, als er auf sie zueilte, und sie musste sich eingestehen, dass es sie jedes Mal freute, ihn zu sehen.

Steffi, ihre jüngere Schwester, hatte wirklich Glück gehabt, diesen tollen Mann kennenzulernen. Inzwischen waren die beiden bereits seit zwei Jahren verheiratet, hatten einen niedlichen kleinen Sohn und erwarteten das zweite Kind in drei Monaten. Thomas arbeitete in der Hamburger Anwaltssozietät seines Vaters und war gerade dabei, sich eine blendende Karriere als Wirtschaftsjurist aufzubauen. Sie bewohnten eine ganze Etage in der elterlichen Villa an der Außenalster, besaßen direkt am Ufer des Lago Maggiore eine prächtige kleine Ferienvilla, die ihnen Thomas Vater zur Hochzeit überschrieben hatte, und Thomas hatte sich gerade dieses neue, schnittige Sportboot gekauft, das jetzt vor ihnen am Steg im Wasser dümpelte.

„Leute, ihr werdet begeistert sein, wie der Flitzer abgeht!“

Als er Paul sah, schienen ihm allerdings leichte Zweifel angebracht zu sein. Immer noch leichenblass, hatte der das Gesicht zu einer Grimasse verzogen, die unter anderen Umständen wohl als versuchtes Grinsen zu deuten gewesen wäre. Er brummte etwas, das wie „Hallo“ klang und ließ sich bereitwillig von Thomas beim Einsteigen in das Boot helfen.

Thomas warf einen vielsagenden Blick zu Sarah auf den Steg hinauf, als er Paul endlich auf dem Sitz neben dem Steuer verstaut hatte, dann reichte er ihr die Hand herauf.

„Wohl wieder eine harte Nacht gewesen?“, raunte er ihr zu.

Sarah nickte kurz.

In der Tat bot Paul ein Bild des Jammers, wie er nun regungslos auf seinem Platz hockte, in Jeans und rotem Polohemd, die langen, schwarzen Haare zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden, der unter seiner Baseballmütze hervorlugte. Die schwarzen Stoppeln seines Dreitagebartes stachen vom Weiß seiner Gesichtshaut noch stärker ab als sonst.

„Hast du heute einen Sunblocker aufgetragen, oder warum siehst du so schön weiß aus?“, versuchte Thomas ihn aus seinem Zustand des Schweigens herauszulösen.

„Lass ihn“, meinte Sarah, „Er wird schon wieder. Zeig mir lieber, wie ich das ganze Zeug hier anziehe. Es ist so unendlich lange her, dass ich zum letzten Mal Wasserski gelaufen bin.“

Sie streifte sich das T-Shirt und die Shorts vom Leib. Darunter trug sie einen schicken schwarzen Badeanzug, dessen Halsausschnitt durch einen Reißverschluss verstellbar war.

„Die Luft ist zwar schon wieder herrlich warm, aber zieh dir auf jeden Fall den Neoprenanzug über. Das Wasser ist nach den Regenfällen der letzten Tage eiskalt. Es dauert immer ein paar Tage, bis sich der See an der Oberfläche wieder erwärmt hat.“

Sarah griff mit der Hand ins Wasser. Thomas hatte Recht, es war erbärmlich kalt.

„Das ist ja auch kein Wunder. Schließlich verbringt er schon seit seiner Kindheit die Ferien hier am See“, ging es ihr durch den Kopf.

Thomas startete den Motor. Ein leichtes Vibrieren durchlief den schlanken Rumpf des Bootes. Paul krampfte seine Hände unwillkürlich in die Armlehnen seines Sitzes, als Thomas die Halteseile löste, das Boot vom Steg wegdrückte und Gas gab.

„Sarah, hinsetzen!“

Wie von einem Bogen abgefeuert, schoss der elegante weiße Pfeil in der nächsten Sekunde über die Wasseroberfläche davon. Sarah spürte erstaunt die unbändige Kraft, mit der sie in die Polster der Sitzbank gepresst wurde. Vom Motor vernahm man nur ein leises, tiefes Brummen, dafür schlugen jetzt die kleinen Wellen des Sees wie das Stakkato von Maschinengewehrfeuer an den Rumpf des Bootes und die Gischt flog in hohem Bogen nach rechts und links. Am Heck zog sich wie ein Kondensstreifen, eine lange, gerade weiße Spur hinter ihnen her, die sich nun zu einem eleganten, nach rechts laufenden Bogen krümmte.

Thomas riss den linken Arm hoch und brüllte etwas zu Sarah nach hinten. Waren es 150 oder 250 PS, die er ihr als Motorleistung zurief? Es war ihr egal – es war einfach nur gigantisch!

Die Unwetter der vergangenen Tage hatten die Luft in dem weiten Tal des Lago Maggiore so gereinigt, dass nun eine glasklare Sicht nach allen Seiten bis auf die Gipfel der Berge möglich war.

Bei ihrer Ankunft vor fünf Tagen war die Luft heiß und die Sicht diesig gewesen. Man konnte nicht einmal das gegenüberliegende Ufer des Sees erblicken.

Jetzt erschien es ihr trotz des starken Fahrtwindes angenehm warm und sie genoss den herrlichen Anblick des vorbeifliegenden Ufers. Von hier aus entdeckte sie eine prachtvolle Villa nach der anderen, die sie von der Uferstraße aus niemals zu Gesicht bekommen hätte.

„Reichtum pur“, ging es ihr durch den Kopf, als Thomas plötzlich das Tempo drosselte. Aus den Augenwinkeln registrierte sie, wie Paul durch die abrupte Verlangsamung der Geschwindigkeit wie ein nasser Sack aus seinem Sitz nach vorne geworfen wurde, dann wieder zurückplumpste und blitzartig den Oberkörper nach rechts über die Bordwand warf. Was dann kam, hatte Sarah eigentlich schon während der Autofahrt befürchtet – er fütterte mit seinem Mageninhalt ausgiebig die Fische.

Thomas drosselte den Motor noch weiter und fragte mit geheucheltem Beileid:

„Na, Paul, fühlst du dich jetzt etwas wohler?“

Er hielt ihm ein Päckchen Papiertaschentücher hin und goss anschließend aus einer Thermoskanne heißen Milchkaffee in einen Becher, den er Paul in die Hand drückte.

Das Boot glitt währenddessen langsam weiter.

Sarah legte sich die Schwimmweste an und stieg von der Leiter am Heck vorsichtig ins Wasser. Dann reichte Thomas ihr den Monoski und den Griff der Leine. Wie in alten Tagen schlüpfte sie in die Halterungen des Ski, nahm den Griff in die rechte Hand und gab Thomas, als sie den Ski in die richtige Ausgangsposition gebracht hatte, mit der anderen Hand das Zeichen zum Start. Doch er drehte bei und kam noch einmal zu ihr zurück.

„Achte auf Treibholz! In den letzten Tagen ist aus den Flüssen viel in den See geschwemmt worden. Pass vor allem an der Mündung der Tresa vor Luino auf!“

Sie nickte und reckte zur Bestätigung einen Daumen in die Luft.

Thomas steuerte das Boot erneut in Startposition und gab dann Gas.

Wie von Geisterhand gehoben, stand Sarah im nächsten Augenblick auf dem Brett und glitt mit großer Geschwindigkeit über das Wasser – den Rücken gerade, die Arme gestreckt, den Körper genau im richtigen Winkel.

„Wie beim Radfahren, man verlernt es nie!“

Sie hielt sich links vom Boot, das nun in Richtung Norden an Luino vorbeijagte. Vor der Mündung der Tresa erkannte sie eine Menge Treibholz, das in einem weiten Halbkreis vor der Flussmündung im See schwamm – ganze Bäume waren darunter!

Sie fuhren in sicherem Abstand daran vorbei.

Dann schoss das Boot weiter in Richtung der Halbinsel von Maccagno.

Sarah genoss das berauschende Gefühl der unmittelbaren Geschwindig-keit. In Gedanken bereitete sie sich darauf vor, die Spur des Bootes zu kreuzen, dann fasste sie sich ein Herz und durchbrach die linke Heckwelle des Bootes.

Sie stand – und das nach fast acht Jahren!

Der Rumpf des Bootes glättete die Wellen des Sees, so dass sie wie auf Pulverschnee über das Wasser fegte.

Am Ufer zog nun Maccagno und die Mündung des Flüsschens Giona vorbei. Sarah entdeckte auch hier eine große Menge Treibholz vor der Flussmündung.

Schon waren sie vorbei, und sie setzte erneut, diesmal zum Überspringen der rechten Heckwelle an. Thomas hielt den gleichen Abstand zum Ufer, wie bisher.

Einen Moment zögerte sie und brach dann durch.

Geklappt – wieder stand sie!

Vor Freude riss sie kurz den linken Arm hoch, um dann rasch wieder den Griff zu fassen, denn jetzt benötigte sie alle Kraft, um sich weit nach außen tragen zu lassen und anschließend mit hoher Geschwindigkeit wieder die Heckwellen des Bootes zu überspringen – nun wollte sie beide in einem Zug nehmen!

Sie zog nach innen und näherte sich rasch der rechten Heckwelle.

In diesem Moment wurde sie plötzlich in hohem Bogen in die Luft geschleudert.

„Die Leine loslassen!“, schoss es ihr durch den Kopf, als sie merkte, wie sich der Monoski von ihren Füßen löste.

Im nächsten Augenblick schlug sie hart auf der Wasseroberfläche auf und dankte Gott und natürlich Thomas, dass sie den Neoprenanzug trug.

Ruhig im kalten Wasser treibend, beobachtete sie, wie Thomas das Boot zur Seemitte hin in einem weite Bogen wendete. Dann steuerte er zu ihr, und sie kletterte über die Heckleiter an Bord.

„Alles in Ordnung mit dir?

„Na klar!“

„Was war denn los? Hattest du keine Kraft mehr?“

„Irgendwas hat mich plötzlich aus dem Wasser gehoben. Zum Glück war es kein Baumstamm.“

Thomas lenkte das Boot zum Wasserski, der in einiger Entfernung im Wasser trieb. Langsam steuerte er links am Ski vorbei, während Paul, dessen Lebensgeister seit Sarahs Sturz zurückzukehren schienen, sich über die Bordkante lehnte und nach dem Brett griff.

Weit über die Bordwand gelehnt, zerrte er das Brett aus dem Wasser. Da hielt er abrupt in seiner Bewegung inne und starrte wie versteinert vor sich in das dunkle Grün des Sees.

„Was ist los, Paul? Ist dir immer noch schlecht?“

Sarah stieg nach vorn, um ihm beim Hereinholen des Brettes zu helfen. Doch in diesem Augenblick ließ er es fallen und sprang wie von einer Tarantel gestochen auf. Seine Augen starrten weit aufgerissen aus seinem aschfahlen Gesicht. Dann machte er zwei unsichere Schritte hinter den Sitz von Thomas, um sich erneut, diesmal über die andere Bordwand, zu übergeben.

Sarah erschrak. So hatte sie ihn noch nie gesehen!

Thomas schaltete den Motor ab und sprang auf.

„Was, zum Teufel, ist mit dir los?“

Er rüttelte den immer noch würgenden Paul an den Schultern.

„Verdammt, sauf doch nicht soviel, wenn es dir am nächsten Tag so schlecht geht!“

Paul schüttelte sich und wies mit der Hand auf die andere Seite des Bootes. Thomas drehte sich um und erschrak, als er jetzt auch Sarah mit weit aufgerissenen Augen ins Wasser starren sah. Aus ihrem eben noch frischen und leicht gebräunten Gesicht war ebenfalls alle Farbe gewichen. Mit zitternder Hand zeigte sie nur wortlos ins Wasser.

Thomas trat zu ihr. Augenblicklich spürte er den Kloß in seinem Hals, und im nächsten Moment krampfte sich sein Magen zusammen. Er taumelte auf die andere Seite des Bootes, und übergab sich, bis nur noch der bittere Geschmack von Galle seine Mundhöhle ausfüllte. Zitternd drehte er sich zurück und blieb, mit dem Rücken an die Bordwand gelehnt, neben den beiden anderen sitzen.

Sarah fand als erste die Sprache wieder.

„Was machen wir jetzt?“

„Jedenfalls werden wir ihn nicht an Bord holen!“

Es war der erste zusammenhängende Satz, den Paul an diesem Tag von sich gab.

„Bist du verrückt?“

Thomas überkam bei dem Gedanken erneut ein Brechreiz und er schüttelte sich vor Ekel.

„Hast du dein Handy dabei?“

Sarah blickte ihren Schwager an. Er nickte und kroch auf allen Vieren zum Handschuhfach, aus dem er das kleine, silberne Ding herausfischte.

„Hat einer von euch die Nummer der Polizei, oder wollt ihr erst die Telefonseelsorge anrufen?“

Pauls Stimme klang krächzend.

„Ich habe die Nummer der Polizei in Luino im Speicher – man kann ja nie wissen.“

Thomas tippte auf dem Handy herum und hielt es schließlich ans Ohr. Nach wenigen Augenblicken begann er auf Italienisch zu reden.

Es dauerte einige Zeit, bis er fertig war. Die anderen beiden verstanden nur wenige Brocken. Tausendmal „Si“ und „No“- von „morto“ und „cadavere“ war die Rede.

„Wir sollen unter allen Umständen hier warten – und wir sollen dafür sorgen, dass wir ihn nicht verlieren…!“

„Ich fasse den nicht an! Ich guck da nicht einmal mehr hin! Wenn ich noch ein Fitzelchen im Magen hätte, würde ich mich auf der Stelle wieder übergeben!“

Paul blickte so entschlossen, dass den beiden anderen klar war, dass sie auf ihn nicht zählen konnten.

„Lass nur, ich mach das schon.“

Sarah richtete sich auf.

„Kommt ja gar nicht in Frage!“

Thomas erhob sich rasch und drückte Sarah wieder zurück auf die Bank.

„Du bleibst hier sitzen und rührst dich nicht von der Stelle! Ich drehe die Leiche um und binde ihr die Schleppleine ums Bein.“

Er griff das Ende der Leine und beugte sich entschlossen über die Bordwand…

„Mist, sie ist weg!“

„Na und? Sei doch froh!“

Paul rappelte sich schwerfällig vom Boden hoch.

„Dann können wir ja endlich von hier verschwinden. Ich brauche jetzt dringend einen großen Grappa.“

Er stützte sich an der Bordwand ab und kam langsam wieder auf die Beine. Kaum stand er etwas unsicher, als das Boot durch eine Welle, die von einer der zwischen den Orten am Lago verkehrenden Fähren stammte, stark überholte. Im selben Augenblick stürzte er über Bord, um im nächsten Moment wild um sich schlagend wieder aus dem Wasser aufzutauchen.

„Holt mich hier raus! Holt mich um Gottes Willen hier raus!“

Er ruderte wild mit den Armen während er versuchte, sich wie ein Delphin möglichst weit aus dem Wasser aufzurichten.

Unmittelbar hinter ihm tauchte ein lebloser Körper aus dem dunklen Grün des Sees an die Wasseroberfläche.

Paul hockte immer noch zusammengekauert und an allen Gliedmaßen zitternd im Heck des Bootes. Sein Gesicht war aschfahl und er stierte mit ausdruckslosen Augen vor sich auf den Boden während er immer wieder leise flehte: “Holt mich hier raus. Holt mich um Gottes Willen hier raus.“

Einer der Polizisten, die mit ihrem Boot vor einer halben Stunde längsseits gegangen waren, hatte ihm eine halbvolle Flasche Ramazotti gegeben, und er hatte sie mit wenigen hastigen Schlucken geleert. Nun nuckelte er immer noch geistesabwesend an ihr herum.

Die Leiche war fotografiert worden, wie sie noch im Wasser trieb, und auch während der Bergung und auf dem Deck des Polizeibootes machte der Polizeifotograf unentwegt weiter Aufnahmen von dem grausigen Fund. Das Objektiv vor seinen Augen schien für ihn wie ein Schutzschild vor der schrecklichen Realität zu sein, die sich ihm auf der anderen Seite der Kamera offenbarte, so dicht ging er mit dem Apparat an den grausig entstellten Leichnam heran.

Selbst den hartgesottenen Carabinieri, die bei ihrer Arbeit so manche grausig zugerichteten Toten hatten bergen müssen, jagte der Anblick dieses Körpers immer wieder Schauer über den Rücken.

Der Kopf war entsetzlich zugerichtet. Das Gesicht hatte überhaupt keine Haut mehr. Nur fahles Fleisch war zu sehen. Wie zwei Tischtennisbälle, die jemand an Bindfäden befestigt hatte, trieben die Augen vor den leeren Höhlen. Ober- und Unterkiefer klafften weit auseinander, dazwischen quoll blassrosa die Zunge hervor. Am Schädel waren nur noch einige kleine Reste der Kopfschwarte mit etwas dunklem Haar zu erkennen.

„Ein Totenschädel mit verwesendem Fleisch!“

Nie zuvor hatte Sarah einen solchen Anblick erlebt, obwohl sie in ihrer Tätigkeit als Journalistin schon so einiges zu Gesicht bekommen hatte.

Als die Männer die Leiche aus dem Wasser zerrten, bemerkte sie entsetzt, dass der Schädel fast vom Rumpf getrennt worden war. Er baumelte an nur wenigen Fasern und Sehnen, die jeden Moment zu reißen drohten. Einer der Polizisten griff beherzt zu und hielt den Kopf mit seinen gummibehandschuhten Händen fest, während seine Kollegen den Rumpf des Toten an seiner Kleidung in das Polizeiboot zerrten.

„Man hat versucht, ihn zu enthaupten.“

Sarah wendete sich entsetzt ab.

„Oder er ist in die Schraube eines Schiffes geraten.“

Thomas legte seine Arme um ihre Schultern und zog sie an seine Brust.

„Komm. Dreh dich um, und schau dir dieses schreckliche Schauspiel nicht mehr länger an.“

Doch sie konnte nicht.

Wie gebannt starrte sie hinüber auf das Polizeiboot, das fest vertäut an ihrem Rennboot lag und auf dem fünf Carabinieri und ein Fotograf ihre Arbeit machten, routiniert und ohne viele Worte.

Wer mochte dieser Tote sein? Und wer hatte ihn in dieser entsetzlichen Weise zugerichtet? Und warum? Langsam spürte Sarah, wie ihr journalistisches Interesse an diesem entsetzlichen Fund in ihr erwachte.

Sie hatte sich die ganzen letzten Monate fest vorgenommen, nichts zu tun, wenn sie erst im Urlaub wäre – absolut nichts, was auch nur im Entferntesten mit ihrem Job zu tun haben würde! Nicht einmal eine Zeitung oder eine Zeitschrift würde sie in den drei Wochen anfassen, hatte sie ihren Kollegen in der Redaktion an ihrem letzten Arbeitstag geschworen. Erst eine Woche viel schlafen und absolut nichts tun und dann endlich die Bücher lesen, die sich seit Monaten ungeöffnet neben ihrem Bett zu einem immer höher werdenden Stapel auftürmten.

Doch in diesem Moment glitten ihre festen Vorsätze immer schneller davon, rutschten über die Bordwand des Rennbootes und verschwanden in dem dunklen Wasser des Sees, auf dem sie förmlich über diesen so entsetzlich verstümmelten Leichnam gestolpert war.

Ein Polizist in Zivil stieg zu ihnen ins Boot und sprach Thomas an. Sarah konnte der auf Italienisch geführten Unterhaltung nicht folgen. Sie verstand nur einige wenige Sprachbrocken und beobachtete daher aufmerksam die anderen Männer, die über den Toten gebeugt, damit beschäftigt waren, die Kleidung des Unbekannten gründlich zu durchsuchen. Der Fotograf schoss währenddessen laufend weiter seine Bilder. Nach ein paar Minuten richtete sich einer der Uniformierten auf und rief dem Polizisten, der sich immer noch mit ihrem Schwager unterhielt, ein paar Worte zu.

„Was hat der da gerade gesagt?“ wollte Sarah wissen.

Thomas unterbrach sein Gespräch und wandte sich ihr zu.

„Sie haben nichts gefunden – keine Papiere, kein Geld, rein gar nichts, was eine rasche Identifizierung des Toten erleichtern könnte. Sie wissen gegenwärtig nur, dass es ein Mann ist.“

DIENSTAG

Questura / Luino

„Wo zum Teufel steckt dieser verdammte Foscari?“

Schon seit einer halben Stunde wählte sich Antonio Morosini die Finger wund. Nun warf er wütend den Hörer auf die Gabel und brüllte durch die weit offenstehende Bürotür über den Flur. Silvio Coletta eilte in den Raum.

„Er hat noch bis morgen früh Dienstausgleich für die Überstunden im Mordfall Parietti, Questore.“

„Das ist mir egal; ich brauche ihn jetzt – sofort – hier und heute!“

Morosini war ein kleiner, untersetzter Mittfünfziger, den sein mächtiger Kugelbauch ständig dazu nötigte, entweder die Hose hochzuziehen oder das Hemd hineinzustopfen. Im Augenblick schien es ihm jedoch egal, dass sein Hemd aus der Hose hing. Er sprang aufgeregt hinter seinem Schreibtisch hervor und stürmte wild gestikulierend auf den erschrocken zurückweichenden Coletta zu.

„Sie sind sein Assistent, und wenn Sie Dienst haben, hat er auch hier zu sein!“

Coletta erschien diese Schlussfolgerung eher unlogisch, aber er wagte es nicht, seinem wütenden Vorgesetzten zu widersprechen.

„Soviel ich weiß, wollte er für ein paar Tage nach Mailand, um endlich seine alte Wohnung aufzulösen.“

„Da habe ich schon zwanzigmal angerufen. Da geht er nicht ans Telefon!“

Morosinis Gesicht war tiefrot angelaufen und sein Kopf schien jeden Augenblick zu platzen.

„Fahren Sie auf der Stelle hin und holen Sie ihn her. Heute Nachmittag um Punkt 15.00 Uhr hat er hier im Hospital zu erscheinen, um bei der Autopsie dieser verdammten Wasserleiche dabei zu sein. Was glotzen Sie so? Fahren Sie endlich los, Mann. Avanti!“

Er drückte Coletta eine dünne Akte in die Hand und drängte ihn unsanft aus dem Büro. Dann warf er hinter ihm die Tür krachend ins Schloss.

Im Davoneilen glaubte Coletta noch etwas von Strafversetzung nach Folsogno, diesem Kaff, zu verstehen, falls er Foscari nicht unverzüglich herbrächte.

Bevor er den betagten Alfa-Romeo startete, wählte er auf seinem Handy eine Nummer, die ihm Foscari vor zwei Tagen gegeben hatte.

„Nur für den absoluten Notfall, Silvio. Verstehst du, Silvio? Ich brauche diese drei Tage, um meine Angelegenheiten zu regeln – unbedingt!“

Coletta hatte genickt und ihm versprochen, dass er ihm alles vom Hals halten werde. Doch nun war der Notfall eingetreten, denn allein der Gedanke an Folsogno, dieses gottverlassene Bergdorf mit seinen drei Häusern und den fünfzig Ziegen, jagte ihm einen Schauer nach dem anderen über den Rücken. Und bei der augenblicklichen Stimmungslage von Morosini konnte er beim besten Willen nicht sicher sein, ob der nicht am Ende seine Drohung wahrmachte!

„Komm sofort hierher, du kleines Miststück – meine Blase platzt!“

Die vertraute Stimme von Foscari scholl ihm drohend aus dem Hörer entgegen.

„Ich bin es, Chef.“

„Coletta? Was willst du von mir? Ich habe dir doch gesagt, du sollst mich nicht…“

„Tut mir leid, Chef, aber es ist jetzt 8.30 Uhr und Morosini tobt schon seit einer Stunde wie ein Irrer, weil er Sie nicht erreichen kann. Ihr Urlaub ist gestrichen. Er will, dass Sie heute Nachmittag um 15.00 Uhr hier in Luino bei der Obduktion eines Toten dabei sind. Ihr neuer Fall, Commissario.“

„Ich kann hier noch nicht weg, Mann! Außerdem ist mein Wagen in Varese in der Werkstatt. Hole mich um Punkt 12.00 Uhr hier ab.“

Er nannte eine Adresse, dann war die Leitung tot.

Coletta überlegte, ob er noch einmal kurz nach oben in sein Büro gehen sollte. Bei dem Gedanken, eventuell dem wütenden Morosini über den Weg zu laufen, entschloss er sich jedoch, dass es seiner Karriere dienlicher wäre, auf der Stelle loszufahren.

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