Teil 1
Freitag, 13.45 Uhr
„Im Namen des Volkes ergeht folgendes Urteil:
Die Klage wird abgewiesen.
Der Kläger wird verurteilt, an die Beklagte einen monatlichen Betreuungsunterhalt in Höhe von 987,- Euro zu zahlen. Weiterhin wird ihm für die Dauer von 10 Monaten jeder Umgang mit den gemeinsamen Kindern Benedikt und Constanze untersagt. Jede Zuwiderhandlung wird mit einer Ordnungsstrafe von 5000,- Euro belegt.
Dem Kläger verbleibt das Recht der Berufung. Die Kosten des Verfahrens trägt der Kläger. Das Urteil mit schriftlicher Begründung wird den Anwälten der beiden Parteien in den nächsten Tagen zugehen.
Die Verhandlung ist hiermit geschlossen.“
Mit einer lässigen Handbewegung klappte Richter Krause den abgegriffenen roten Aktendeckel zu, warf einen flüchtigen Blick auf seine Armbanduhr und schaute beiläufig zur Anwältin der Beklagten hinüber. Er bemerkte ihr zufriedenes Lächeln und ein eher zufälliges Kopfnicken. Dann erhob er sich, streifte seine Robe ab und verließ grußlos den Verhandlungsraum. Aus den Augenwinkeln registrierte er noch den fassungslosen Gesichtsausdruck des Klägers, der wie gefesselt auf seinem Stuhl saß, die Hände auf der Tischplatte verkrampft und seine Anwältin versteinert anstarrte.
Krause zog sanft die Tür hinter sich ins Schloss, um die „andächtige Stimmung“ nicht zu stören, die seine mit lei-ser Stimme verkündeten Urteile jedes Mal bei den Verlierern hervorriefen. Was waren das doch für jämmerliche Waschlappen, die da vor ihm kauerten, wenn er mit ihnen fertig war.
Amüsiert ging er zu seinem Schreibtisch, setzte sich und sprach bedächtig und konzentriert das Urteil sowie eine ausführliche Begründung in sein Diktiergerät. Dann schweiften seine Gedanken zur bevorstehenden Fahrt ab, die er gleich antreten würde. Ärgerlich musste er das Band mehrmals zurückspulen, um die Formulierungen noch ein-mal auf ihre Stimmigkeit hin zu überprüfen und an einigen Stellen zu korrigieren.
Endlich war er fertig und warf die Akte auf den Stapel der erledigten Fälle. Am Wochenanfang würde der Schreib-dienst den Schriftsatz anfertigen und ihm zur Unterschrift vorlegen, wenn er am nächsten Mittwoch wieder im Gericht erscheinen würde. Jetzt wollte er nur rasch raus hier!
Der Wagen stand bereits gepackt auf dem Parkplatz des Amts-gerichtes. Seine Frau und die Kinder waren noch für eine Woche bei den Schwiegereltern in Freiburg, und auf ihn wartete nun ein entspanntes verlängertes Golf-wochenende in Travemünde. Er würde nur eben noch zu Hause vorbeifahren, um nach der Post zu sehen und die Pflanzen seiner Frau gießen.
Gut gelaunt und vor sich hin summend warf er seine Robe über den Unterarm, verließ das Büro und eilte die Treppe hinunter. Flüchtig nickte er dem Justizangestellten an der Pforte zu, der mit einem Knopfdruck augenblicklich die Tür zum Innenhof schnarrend freigab.
Freitag, 13.51 Uhr
Markus Mesch schien immer noch nicht begriffen zu haben, was er da gerade gehört hatte. Wie betäubt hockte er auf dem Stuhl, die Schultern kraftlos heruntergesunken. Nur mühsam brachte er die Worte hervor.
„Ich darf die Kinder für zehn Monate nicht mehr sehen und soll meiner Exfrau auch weiterhin fast tausend Euro im Monat zahlen? Sie hatten mir doch zugesichert, dass ich schon längst keinen Unterhalt mehr für sie zu zahlen bräuchte? Und was soll das mit den Kindern? Wieso darf ich nun auch meine Kinder nicht mehr sehen?“
Seine Anwältin legte ihm beruhigend die Hand auf den Unterarm.
2
„Mit dem zeitweiligen Entzug der Kinder will das Gericht wieder Ruhe in die Familie bringen und die Kinder stabilisieren. Und bei dem Unterhalt kann ich nur sagen, dass Sie das Pech haben, Mesch zu heißen. Würde Ihr Nachname mit „N“ beginnen, wäre die Richterin Rövekamp für Ihren Fall zuständig, die deutlich männerfreundlichere Urteile fällt und den Frauen keinen juristischen Schonraum zubilligt. Richter Krause urteilt fast ausnahmslos zum Vorteil der Frauen aber das haben Sie ja schon hinlänglich gemerkt.
Sowie wir die Urteilsbegründung vorliegen haben, werden wir beim OLG in die Berufung gehen.“
Markus Mesch hatte den letzten Satz der Anwältin schon gar nicht mehr gehört. Verbittert kreiste ein Gedanke in seinem Kopf: „…Ruhe in die Familie bringen? Ja, Friedhofsruhe!“
Freitag, 14.05 Uhr
Nachdem die beiden Frauen gutgelaunt das Gerichts-gebäude verlassen hatten,
verabschiedete sich Rechts-anwältin Blessing herzlich von ihrer Mandantin und eilte zum Parkplatz des in der Nähe liegenden Gymnasiums. Dort hatte sie ihr Auto abgestellt. Seit einer Woche waren Sommerferien, und wo man sonst keinen freien Parkplatz mehr finden konnte, standen jetzt lediglich zwei Fahr-zeuge.
In Gedanken war sie schon bei der Tagung der „Arbeits-gemeinschaft feministischer Anwältinnen im Münsterland“, zu der sie sich nun auf den Weg nach Greven machen würde. Sie freute sich über den anstehenden Erfahrungsaustausch mit ihren Kolleginnen und formulierte in Ge-danken bereits die Sätze, mit denen sie über ihren heutigen Erfolg bei Gericht berichten würde. Geradezu diebische Freude bereitete es ihr, nachher die Verärgerung
und Missgunst in Brigittes Gesicht sehen zu können, denn die hielt sich im Arbeitskreis immer schon für die am erfolgreichsten für die Rechte der Frauen Arbeitende.
Ein kurzer Druck auf die Fernbedienung ließ die Heckklappe ihres roten Mercedes-Kombis aufschwingen. Sie verstaute die Akten und ihre Robe sorgfältig im Kofferraum und richtete sich wieder auf.
In diesem Moment wurde ihr von hinten eine schwarze Plastiktüte über den Kopf gezogen. Ihr Entsetzensschrei erstarb, als sie einen stechenden Schmerz im Nacken spürte. Verzweifelt rang sie nach Luft und bemerkte gerade noch, wie sie nach einem derben Stoß in den Kofferraum ihres Wagens stürzte, bevor sie die Besinnung verlor.
Freitag, 14.20 Uhr
Beinahe tänzelnd bewegte Richter Krause seinen massigen Körper zu dem dunkelblauen Volvo-Kombi, dessen Entriegelung beim Drücken der Fernbedienung kurz klackte.
Er ließ sich auf den Fahrersitz fallen, warf die Robe achtlos auf den Beifahrersitz und startete den Motor. Dann tippte er die Zieladresse in das Navi ein und ohne auf die Bestätigung der Routenberechnung zu warten, ließ er den Wagen langsam auf das dunkelgrüne Gittertor zurollen, das den Gerichtsparkplatz hermetisch von der Außenwelt abriegelte. Das Licht einer gelben Blinkleuchte blitzte auf und das Tor schob sich wie von Geisterhand bewegt langsam zur Seite. Er lenkte den Wagen behutsam auf die Straße, winkte noch einmal gutgelaunt der Überwachungs-kamera zu, die an der Außenwand des Gerichtsgebäudes montiert die Einfahrt überwachte, bog rechts ab und gab Gas.
Die Straße wirkte zu dieser Tageszeit bereits wie ausgestorben. Alle Behörden der verschlafenen Kleinstadt hatten schon seit 12.00 Uhr die Türen geschlossen und er war heute der letzte Richter im Haus, der noch diese nerv- tötenden Ehestreitigkeiten abzuhandeln gehabt hatte, die ihm eigentlich schon seit Jahren zum Hals heraushingen, wenn da nicht immer wieder diese beinahe weihevollen Momente der „Andacht und des Innehaltens“ wären, die er in diesen sonst so starken Männern und Vätern mit wenigen wohlgesetzten, dürren Worten hervorrief.
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Er öffnete das CD-Fach in der Mittelkonsole, fingerte eine CD raus und schob sie fröhlich pfeifend in den Schlitz des CD-Players.
Im nächsten Moment bremste er den Wagen mit quietschenden Reifen ab und kam noch gerade rechtzeitig vor dem roten Fahrzeug zum Stehen, das eben aus einer Einfahrt auf die Straße gerollt war und jetzt vor ihm stand.
Verärgert ließ Krause das Seitenfenster herunter, als seine Fahrertür aufgerissen wurde. Aus den Augenwinkeln registrierte er flüchtig eine Gestalt, die ihm blitzschnell eine schwarze Plastiktüte über den Kopf zog und ihm so Sicht und Atem nahm. Kräftige Hände rissen ihn vom Fahrersitz und stießen ihn einen Augenblick später auf die Rückbank seines Wagens. Er spürte einen stechenden Schmerz in seiner Nackenmuskulatur gerade in dem Augenblick, als aus den Lautsprechern Marianne Rosen-bergs Stimme „Er gehört zu mir…“ plärrte.
Dann verlor er das Bewusstsein.
Freitag, 21.07 Uhr
Was war das?
Was war geschehen?
Mühsam ordneten sich seine Gedankenfetzen zu sinnvollen Zusammenhängen. Die Schläfen pochten und ein rasender Kopfschmerz machte sich immer heftiger bemerkbar. Sämtliche Muskeln seines Körpers schienen nur noch aus dem einen Grund zu existieren, ihm höllische Schmerzen zu bereiten. Seine Hände und Füße waren wie abgestorben. Der steife Nacken und das Gesicht brannten. Die Zunge klebte dick am trockenen Gaumen.
Er öffnete die Augen.
Tiefe Finsternis umgab ihn. Er horchte angestrengt auf die Geräusche, die ihn hatten wachwerden lassen.
War das etwa Meeresrauschen, was er da vernahm?
Er hielt die Luft an, um besser hören zu können, und augenblicklich waren die Geräusche verstummt.
Tief sog er neue Atemluft in die Lungen.
Da hörte er es wieder!
Er hielt erneut den Atem an, und sofort umgab ihn wieder eine beunruhigende Todesstille. Langsam dämmerte ihm, dass es sein eigener Atem war, der beinah unerträglich laut in seine Ohren drang und im Konzert mit den übrigen Schmerzen seine zum Zerreißen angespannten Nerven strapazierte.
Er spürte, wie ganz allmählich kribbelnd neues Leben in seine abgestorbenen Finger zurückkehrte.
Er ertastete nun grobes Holz, auf dem seine Hände lagen. Auch unter den nackten Füßen spürte er immer deutlicher die Maserung groben Holzes.
Er versuchte, mit der rechten Hand sein Gesicht zu berühren, doch irgendetwas hinderte ihn, die Hand zu heben; hielt sie eisern auf dem Holz fest. Das gleiche widerfuhr seiner linken Hand.
Er versuchte, die Füße zu bewegen. Auch sie schienen wie verwurzelt mit dem Boden unter ihnen zu sein.
Seine Gedanken begannen sich zu überschlagen.
„Was ist das?
Wo bin ich?
Was ist mit mir los?“
Allmählich gelang es ihm, gegen einen irrsinnigen Schmerz im Nacken ankämpfend, den auf die Brust gesunkenen Kopf erst nach links, dann nach rechts zu wenden und schließlich langsam aufzurichten.
Trotz seiner brennenden Gesichtshaut registrierte er, dass irgendetwas seinen Kopf und sein Gesicht umgab, einengte, sich unlösbar an seine Haut schmiegte. Er versuchte, den Mund zu öffnen und spürte einen Wider-stand unter seinem Kinn, an den Wangenknochen, am ganzen Kiefer.
Er atmete tief ein und konzentrierte sich nun auf seinen Geruchssinn. Da war etwas – ein Geruch, der ihm bekannt erschien, den er jedoch nicht zuzuordnen vermochte. Er wurde von anderen fremden Gerüchen begleitet, setzte sich aber deutlich ab!
Er gab auf; kam derzeit auf diese Weise nicht weiter. Erst mal einen anderen Weg einschlagen! Fieberhaft wühlte er in seinen Gedanken, um an den Punkt in seiner Erinnerung zu gelangen, der ihm den Faden der zuletzt geschehenen Ereignisse wieder aufnehmen ließ.
Erst einmal Ordnung in das Geschehene bringen:
„Ich bin Jürgen Krause, am 28.6.1966 in Herne geboren, verheiratet, habe zwei Kinder, bin von Beruf Richter…
Richtig! Ich war auf dem Weg zur Ostsee, weil ich dort endlich ein ungestörtes
Golfwochenende verbringen wollte. Meine Frau und die Kinder sind bei den Schwieger-eltern. Aber was um Himmelswillen ist bloß geschehen, dass ich mich in dieser Situation befinde?
Es muss ein Traum sein – ein Albtraum!
Los, Jürgen, werde wach!
A U F W A C H E N! ! !“
Er brüllte das Wort laut aus sich heraus und der Schmerz in seinen Ohren brüllte als Echo in seinen Schädel zurück.
Es gab keinen Zweifel: Das war kein Traum – das war die verdammte, entsetzliche
Wirklichkeit!
Und jetzt war es schlagartig wieder da, das Bild, das er zuletzt abgespeichert hatte: der rote Wagen, der plötzlich aus einer Einfahrt vor ihm aufgetaucht und mit dem er beinahe zusammengestoßen war. Und richtig – seine Fahrertür wurde aufgerissen und jemand streifte ihm eine Tüte über den Kopf. Und dann dieser Schmerz in seinem Nacken, den er immer noch brennend spürte… Wie ein Blitz durchzuckte ihn die Erkenntnis:
Man hatte ihn entführt!
Starr vor Entsetzen saß er da. Doch schon im nächsten Moment jagte ein gigantischer Adrenalinschub durch seinen Leib und ließ mit einem Schlag alle körperlichen Schmerzen verschwinden. Mit aller Kraft bäumte er sich auf, wollte sich losreißen von den Fesseln, die seine Hand- und Fußgelenke fixierten, konnte sich zumindest mit dem schmerzenden Gesäß von dem Stuhl erheben, auf dem er seit einer Ewigkeit zu sitzen schien; brüllte, dass ihm beinahe die Trommelfelle platzten, warf den Kopf wild hin und her – irgendetwas schlug ihm dabei an seine Unterarme.
Krause stutzte und ließ sich wieder auf den Stuhl fallen.
Was war das?
Er überlegte fieberhaft.
Dann wurde ihm unerbittlich klar, wie es um ihn bestellt war!
Er hockte in irgendeinem gottverdammten, muffigen Bretterverschlag, war an Händen und Füßen gefesselt, und man hatte ihm eine Gasmaske über den Schädel gezogen, deren Atemschlauch zwischen seinen Armen herunter-baumelte. Nun nahm er auch ganz deutlich den Gummi-geruch der Maske wahr. Wie versteinert saß er da und fühlte, wie etwas Warmes an seinen Schenkeln herunter rann.
Seine Blase entleerte sich in einem nicht enden wollenden Schwall.
Freitag, 22.10 Uhr
Zufrieden und in ausgelassener Stimmung verließ das Paar die immer noch dichtbesetzte Terrasse des kleinen Fisch-restaurants, das unmittelbar an das Hafengelände an-grenzte. Sie hatten ausgezeichnet gegessen und dazu eine Flasche trockenen Saale-Unstrut Wein getrunken. Sie hatten mit den Gästen an den Nachbartischen angeregte und nette Unterhaltungen geführt, mit dem Kellner gescherzt und beim Zahlen ein großzügiges Trinkgeld hinterlassen.
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Jeder der Anwesenden würde sich an die beiden reizenden Menschen um die Fünfzig erinnern, würde er nach ihnen gefragt werden. Nun schlenderten sie Arm in Arm zu dem malerisch gelegenen kleinen Hotel in der Nähe der Marina, in dem sie für diese Nacht ein Doppelzimmer gebucht hatten. Morgen um 14.00 Uhr würde das gecharterte Boot frischgeputzt und aufgetankt für sie bereitliegen.
Wie so oft verspürte er auch in diesem Moment wieder, wie sehr er diese Frau liebte, die sich so selbstverständlich auf seine Seite gestellt hatte, als sie sich kennenlernten und sie von seiner geradezu ausweglosen Lebenssituation erfuhr. Mit ihr hatte er den Glauben an die Liebe wiedergefunden, an die bedingungslose Liebe, die nicht berechnend war, sondern auf gelebter, echter Partner-schaft basierte. Mit ihr hatte er endlich sein Selbst-wertgefühl und sein Leben wiedergefunden und sie lebten ihre wundervolle Liebe nun schon seit fünf Jahren.
Bevor sie auf ihr Zimmer gingen, tranken sie noch einen Absacker an der Hotelbar, unterhielten sich auch hier angeregt mit der Kellnerin und steckten ihr zum Abschied ein fürstliches Trinkgeld zu.
Kurze Zeit später lagen sie im Bett und liebten sich leiden-schaftlich – der beste Abschluss eines aufregenden und rundum gelungenen Tages!
Samstag, 07.00 Uhr
Knarrend öffnete sich die windschiefe Holztür des alten Bootsschuppens, als der Mann eintrat. Seine Augen benö-tigten einen Moment, bevor sie sich an das im Innern herrschende Dämmerlicht gewöhnt hatten.
Er stellte die mitgebrachten Wasserkanister ab und be-trachtete wortlos die beiden Gestalten, die links und rechts von dem alten Holzkahn auf den schmalen Bretterstegen auf Stühlen sitzend die Nacht verbracht hatten. Ihre Handgelenke waren mit breiten Klettbändern, an denen Karabinerhaken angearbeitet waren, mit soliden Ringschrauben an massiven Brettern fixiert, die wie Tische vor ihnen an den Balken des Schuppens verschraubt waren. Die Fußgelenke waren ebenfalls mit breiten Klett-manschetten und Haken am Holzboden befestigt.
In ihren schwarzen Roben, den hellgrauen Gasmasken aus alten NVA-Beständen und den orangeroten Lärmschützern auf den Ohren wirkten sie wie aus dem Bühnenbild einer avantgardistischen Theaterinszenierung – lächerlich und abstoßend zugleich. Er trat nacheinander an beide heran und lauschte auf die Geräusche der Luft, die in regelmäßigen Abständen aus den Atemventilen der Schlafenden strömte. Dann über-zeugte er sich davon, dass der schwarze Farbanstrich der Augengläser unbeschädigt war. An den Fingerspitzen der Frau entdeckte er leichte Schürfwunden, die sie sich auf dem ungehobelten
Holz zugezogen hatte. Das würde er abstellen müssen. Er griff in die Tasche seiner Jacke und zog zwei Paar rosafarbene Haushaltshandschuhe heraus.
Ohne sich noch einmal umzuschauen, verließ er wenige Minuten später den Bootsschuppen, verriegelte die Tür und ließ das Vorhängeschloss einschnappen.
Das Spiel hatte begonnen – sein Spiel, das er für diese beiden Verursacher seines über so viele Jahre an-dauernden Leidens geplant und vorbereitet hatte. Immer wieder hatte er seine Pläne verworfen um sie anschließend ganz neu zu entwickeln in all den ungezählten schlaflosen Nächten, in denen er sich rastlos von einer Seite auf die andere wälzend, wach gelegen hatte und seine geliebten Kinder so schmerzlich vermisste.
Nachdem sich seine Frau völlig überraschend von ihm getrennt hatte, bekam er die beiden anfangs überhaupt nicht zu sehen und dann nur noch alle zwei Wochen in der ihm vom Gericht aufgezwängten Rolle als Pausenclown und Gastvater, der auch noch gute Miene zum bösen Spiel zu machen hatte.
Das wenige Geld, das ihm dank dieser beiden schmierigen Juristen zum Leben geblieben war, hatte ihn immer weiter in die Verarmung abrutschen lassen. Es reichte jetzt ge-rade noch, um zu überleben. Den Rest musste er seit Jahren für die Kinder und vor allem für den luxuriösen
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Unterhalt seiner Exfrau Ulla zahlen, die sich konsequent weigerte, wieder in ihrem alten Job zu arbeiten und für ihren eigenen Lebensunterhalt aufzukommen. Unaus-löschlich hatte sich ihre Bemerkung in sein Gedächtnis eingebrannt, die sie nach der Gerichtsverhandlung feixend dieser Blessing zuraunte: „Ab jetzt werde ich nur noch Sekt trinken!“
Und nie würde er das triumphierende Grinsen dieser Winkeladvokatin vergessen, als sie ihn mit ihren blass-blauen Augen anschaute.
Ab jetzt würden zumindest die „Fachanwältin für Familien-recht“ Blessing und ihr willfähriger Erfüllungsgehilfe Krause keinen Sekt mehr trinken!
„Dies irae“ – der Tag des Zorns, das Jüngste Gericht war für die beiden angebrochen, und nun würden sie genau die Qualen durchleiden, die sie ihm, den zahllosen anderen ihrer Kinder beraubten Vätern und den erzwungen vaterlos aufwachsenden Kindern bereitet hatten!
Samstag, 09.30 Uhr
Nach einem ausgiebigen und reichhaltigen Frühstück checkten sie im Hotel aus, verstauten das Gepäck in dem blauen Volvo-Kombi und fuhren die wenigen Kilometer nach Fürstenberg. Dort kauften sie in einem Supermarkt Lebensmittel und Getränke für eine ganze Woche und in einem Angelgeschäft eine komplette Angelausrüstung sowie ein Handbuch für Einsteiger in den Angelsport. Anschließend parkten sie an der Marina von Fürstenberg, setzten sich dort
auf die Terrasse des Seerestaurants und bestellten zwei Tassen Cappuccino. Sie überprüften noch einmal die Papiere, die sie nachher für den Vercharterer des Bootes brauchen würden.
Alles war vollständig und perfekt.
Samstag, 10.05 Uhr
Nur sehr langsam und vorsichtig gelang es ihr, den immer noch schmerzenden Kopf wieder aufzurichten und zwischen den Schultern einzupendeln. Ihre Nacken-muskulatur schmerzte höllisch und verhinderte anfangs jeglichen klaren Gedankenfluss.
Geradezu schmerzhaft reifte in ihr erneut die bittere Erkenntnis, dass es doch kein Traum sondern die grauen-hafte Realität war, in die sie gerade wieder einzutauchen begann. Weiterhin umgab sie tiefe Dunkelheit und die geradezu unerträgliche Stille, unterbrochen vom regel-mäßigen Zischen ihrer Atemzüge.
Sie war auf einem Bauernhof aufgewachsen und war von daher wenig schreckhaft oder ängstlich. Von ihren Brüdern hatte sie als Kind einiges wegzustecken gelernt. Doch als sie nach ihrer Entführung, denn nichts anderes konnte ihr widerfahren sein, das Bewusstsein wiedererlangt hatte, beschlich sie ein immer stärker anwachsendes Gefühl von Hoffnungslosigkeit angesichts der Umstände, in denen sie sich derzeit befand.
Allmählich kehrten ihre Gedanken wieder zu den Stunden zurück, die ihrem Schlaf
vorausgegangen waren. Sie war sich darüber klar geworden, dass sie mit einer Gasmaske über dem Kopf und nur einem dünnen Stoffmantel bekleidet, an Füßen und Händen gefesselt in einem Holzverschlag festgehalten wurde und eine Flucht völlig ausgeschlossen war. All ihre Bemühungen, sich zu be-freien, waren kläglich gescheitert. Ihre schmerzenden Fingerkuppen erinnerten sie noch an die Erfolglosigkeit dieser Versuche.
Eher beiläufig registrierte sie nun auch, dass sich zwischenzeitlich ihre Blase und ihr Darm entleert hatten. Sie nahm den unangenehmen Geruch ihrer Exkremente wahr, der ihr bei jedem Atemzug in die Nase stieg. Erneut kämpfte sie gegen die aufkeimende Panik an, die sie zu beschleichen drohte, indem sie sich zwang, möglichst sachlich ihre Lage zu analysieren. Sie saß hier fest, dazu verdammt, im Gestank ihrer eigenen Ausscheidungen darauf zu warten, dass etwas geschehen würde, was auch immer es sein würde. Erneut übermannte sie
das deprimierende Gefühl absoluter Ohnmacht und wachsender Verzweiflung, gepaart mit dem Ekel und der Scham darüber, welchen Anblick sie einem möglichen Betrachter jetzt böte.
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Nichts konnte sie in dieser Situation unternehmen, als zu denken. Sie war fest entschlossen, dem Drängen der in ihr immer wieder aufbrodelnden Angst nicht nachzugeben – um keinen Preis nachzugeben, denn sonst würde sie wahnsinnig werden! Denken!
Darüber nachdenken, wer der Entführer sein könnte; darüber nachdenken, was die Gründe für ihre Entführung sind; darüber nachdenken, was der Entführer mit seiner Tat zu beabsichtigen
gedachte…
Für die Entführung kam ihr spontan nur ein Täter in den Sinn. Dieser Mesch war es. Dieser Wurm, den sie kurz vor der Entführung noch einmal, und diesmal endgültig zertreten hatte! Er war nach der Verhandlung am Freitag völlig außer sich gewesen. Das hatte sie beim Verlassen des Verhandlungs-raumes noch mit dem Gefühl tief empfundener Genugtuung registriert. Es verwunderte sie allerdings, dass er sich dann offenbar recht schnell wieder gefangen hatte.
Er musste aus dem Gerichtsgebäude geeilt und ihr bis zum Parkplatz gefolgt sein, wo er sie dann überfallen, betäubt und entführt hatte.
Nur, was wollte er mit dieser aberwitzigen Tat be-zwecken? Das Urteil war doch gesprochen und somit nicht mehr aus der Welt zu schaffen. Er hatte seiner Frau, wenn jetzt auch weniger, so doch weiterhin Betreuungsunterhalt zu zahlen, der ihr vom Gericht schon seit Jahren als rechtmäßig zugesprochen worden war, und dass er in der nächsten Zeit die Kinder nicht zu sehen bekommen würde, war vom Gericht auch ausschließlich im Interesse der Kinder so entschieden worden.
Was wollte er dann also von ihr?
Sie hatte doch auch diesmal nur ihren Job erledigt, wie sie ihn für jede ihrer zahlreichen anderen Mandantinnen seit vielen Jahren gemacht hatte. Und dass sie mit ihren Anträgen bei Gericht im Regelfall sehr erfolgreich agierte, lag ja wohl daran, dass die Anwälte der Gegenseite lediglich zweit- und drittklassige Kollegen waren, die ihr einfach nicht das Wasser reichen konnten.
Was wollte er also von ihr? Sich rächen? Sich einfach nur blind rächen dafür, dass sie ihr Geschäft verstand?
Das machte ihn gefährlich und unberechenbar!
Das war das typische Durchdrehen eines testosteron-gesteuerten Machoarschloches, bei dem alle Sicherungen durchgebrannt sind und der angesichts seines Macht-verlustes über seine Exfrau und die Kinder seine Ohnmacht durch krankhafte Gewaltphantasien abzureagieren versucht!
Diesen klassischen Verlierertypen hatte sie schon oft gegenübergesessen. Diesen „Männern“, die plötzlich nichts, aber auch gar nichts mehr von ihrem alten Paschagebaren übrigbehielten, wenn sie mit denen fertig war: Ihre Frauen waren weg; ihre Kinder waren weg; das Haus, das Auto und das Vermögen waren im Normalfall auch weg. Und damit war auch ihr ekelhafter, überheblicher, männlicher Stolz schlagartig verschwun-den.
Da schlichen anschließend nur noch armselige, ratlose, gebrochene Jammerlappen durch die Gerichtsflure davon, die sie nach allen Regeln der juristischer Kunst fertig gemacht hatte; die sie in all ihrer Erbärmlichkeit bloßgestellt hatte – und das alles im Rahmen der gültigen Rechtsprechung – darauf hatte sie stets großen Wert gelegt!
Für ihre Mandantinnen das Optimum dessen als Wieder-gutmachung für jahrelang erlittene männliche Unter-drückung herauszuholen, was der Gesetzgeber eben noch zuließ, das war ihre Aufgabe, dafür wurde sie von ihren Mandantinnen geliebt – und zudem in der Regel auch noch von deren Exmännern bezahlt!
Der Gedanke amüsierte sie für einen Moment, doch dann dachte sie wieder daran, was sie ihrem Entführer zu sagen hätte, um ihn wieder zur Vernunft zu bringen.
Sie müsste auf jeden Fall Verständnis für sein Durch-drehen zeigen! Das würde deeskalierend wirken und ihn bei der Umsetzung seines Plans – falls er den überhaupt hatte – verunsichern.
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Dieses Vorgehen hatten sie und ihre Kolleginnen im Arbeitskreis einmal durchgespielt, weil es immer wieder vorkam, dass gerade verlassene türkische Männer aus-rasteten und Amok liefen. Für die war es ja auch noch eine Frage der Familienehre…
„Ich kann Sie ja nur zu gut verstehen, Herr Mesch. Bei einem solchen Urteil würde selbst mir als Frau die eine oder andere Sicherung durchbrennen, Herr Mesch! Aber verstehen Sie auch, dass mir die Hände gebunden waren.
Ihre Exfrau – Sie kennen sie ja besser als ich – hat mir genau vorgegeben, was ich bei Gericht zu beantragen hatte. Das habe ich gemacht und kein Fitzelchen mehr! Dass der Richter so hart entscheiden würde und Ihnen nun auch noch den Umgang mit Ihren Kindern untersagt hat, ja, damit habe selbst ich nicht gerechnet. Das dürfen Sie mir ruhig glauben, Herr Mesch!
Warum ich Ihre Exfrau schon wieder vertreten habe, wollen Sie wissen? Ich kann mir meine Mandantinnen doch nicht aussuchen, Herr Mesch.
Ich bin nur eine Dienstleisterin.
Meine Mandantinnen suchen mich aus! Und wenn Sie sich wirklich für dieses harte Urteil rächen wollen, dann ist die passende Person doch wohl einzig der Richter Krause, Herr Mesch! Der hat Sie doch verurteilt! Der hat doch entschieden, dass Sie Ihre Kinder so lange nicht mehr sehen dürfen!“
Genau so würde sie es versuchen, dem Entführer das klar zu machen. Mit diesen Argumenten würde sie ihn davon überzeugen, sie wieder frei zu lassen und sich nicht noch tiefer in sein Unglück zu verrennen. Sie würde ihn schon zur Vernunft bringen; würde zudem an seine Männlichkeit appellieren, ihn sogar bitten, sie doch einfach laufen zu lassen, jetzt gleich laufen lassen, denn sie sei doch schließlich auch nur eine schwache Frau, und allein der Schock der Entführung habe sie schon mental und körperlich absolut an den Rand ihrer Belastbarkeit gebracht.
Sie unterbrach ihre Gedanken für einen Moment und lauschte ihrem Atem, der jetzt heftiger und in kürzeren Abständen in ihre Ohren drang.
Fieberhaft dachte sie den Argumentationsstrang weiter, mit dem sie den Entführer zu ihrer Freilassung bewegen würde: Sie sei doch schließlich auch Mutter und habe ebenso wie er auch zwei Kinder, die jetzt verängstigt zu Hause säßen und sehnlichst auf ihre Heimkehr warteten. Auch ihr Mann, dem sie stets eine treue und hingebungs-volle Ehefrau gewesen sei, würde sich sicher schon große Sorgen wegen ihres Verschwindens machen.
Sie hätten extra für dieses Wochenende alle üblichen Verpflichtungen abgesagt, um gemeinsam in Münster eine Theateraufführung zu besuchen und anschließend wollten sie zur Festigung ihrer seit vielen Jahren andauernden harmonischen Ehe eine Nacht in dem Hotel verbringen, in dem sie damals die Hochzeitsnacht erlebt hatten.
Wolle er denn wirklich unschuldige Menschen solchen Ängsten und Nöten aussetzen? Er sehne sich doch schließlich auch nach dem Glück, das nur eine intakte Familie…
Hier stockte sie, denn jetzt erschien es ihr, dass sie mit dieser Argumentationsweise doch zu dick auftragen und sich die Reaktion ihres Entführers auch ins Gegenteil ihrer Absicht verdrehen könnte. Was wäre, wenn er in seinem neu aufflackernden Schmerz ihr einfach den Schlauch ihrer Atemmaske zuhielte und sie jämmerlich ersticken ließe. Das wäre schließlich ein
Leichtes für ihn!
Oder er würde sie wortlos zurücklassen und einfach nicht mehr wiederkehren?
Würde er überhaupt noch mit ihr sprechen wollen und wozu eigentlich? Um sich an ihrem Elend zu ergötzen?
Um ihr etwa noch weitere Qualen zu bereiten, die er sich womöglich in der Zwischenzeit ausgedacht hatte?
Würde er überhaupt noch einmal hierher kommen?
Diese Gedanken lösten bei ihr das plötzliche Gefühl einer Panikattacke aus und sie krampfte unwillkürlich die Fingernägel ins Holz.
Sie spürte kein Holz mehr!
Erst jetzt wurde sie gewahr, dass ihre Hände in Handschuhen steckten. Der Entführer war zwischenzeitlich also da gewesen – genau in der Zeit, als sie geschlafen hatte!
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Diese Erkenntnis hatte für sie geradezu etwas Beruhigendes, denn er war wieder zurückgehrt und hatte etwas unternommen. Der Entführer hatte etwas mit ihr vor, was ihn dazu veranlasst hatte, ihr Handschuhe anzuziehen. Warum sonst sollte er das gemacht haben? Es bestand also noch die Chance, ihn von seinem Vorhaben abzubringen!
Sie atmete tief ein, registrierte den Gestank kaum noch und begann erneut damit, sich Argumente für ihre schnelle Freilassung zurechtzulegen.
Samstag, 15.25 Uhr
Die Übergabe des Bootes war problemlos erfolgt. Den Charterpreis hatten sie bar bezahlt. Der Eigner hatte bei der Kontrolle der Papiere keinerlei Verdacht geschöpft und nun legten sie vom Steg der kleinen Marina in Himmelpfort ab, um eine Woche Urlaub auf den brandenburgischen und mecklenburgischen Seen zu genießen. Das Boot, eine holländische Linssen-Yacht, bot mit seiner gediegenen Ausstattung die beste Voraussetzung dafür.
Nach einer Fahrzeit von knapp einer halben Stunde hatten sie am gegenüberliegenden Ufer des Sees eine kleine Bucht erreicht. Ein dichter Binsengürtel trennte das Ufer von der offenen Wasserfläche. An einer schwer zugäng-lichen Stelle führte eine schmale, kanalartige Zufahrt durch die Binsen zu einem unscheinbaren, älteren und ver-nachlässigt wirkenden, hölzernen
Bootshaus.
Als das Echolot nur noch eine Handbreit Wasser unter dem Kiel anzeigte, warfen sie Anker und wenig später glitt das winzige Dingi zum Bootshaus.
Samstag, 16.05 Uhr
Die panische Angst schien einer lähmenden Apathie gewichen zu sein. Vielleicht war es ja der Verlust des Raum- und Zeitgefühls oder schlicht die Erschöpfung, die keine Gedanken mehr zuließ. Alle Ursachen für sein Hiersein hatte er wie in einer Endlosschleife immer wieder gedanklich durchgespielt. Alle Varianten seines baldigen Endes waren ihm durch den Kopf gegeistert.
Alle damit verbundenen Ängste und Panikanfälle hatten ihn mehrfach die Kontrolle über seinen Körper verlieren lassen. Er hatte geweint, geschrien, gebetet und gefleht – die
Antwort war stets nur das zischende Geräusch seines Atems.
Auch der Gedanke, seine Kinder niemals wiederzusehen, hatte bei ihm wiederholt
unkontrollierbare Weinkrämpfe und das Gefühl einer abgrundtiefen Trauer hervorgerufen. Er liebte sie über alles!
Geradezu schmerzhaft machte sich der Wunsch nach ihrer Nähe in seinem Körper breit. Was gäbe er jetzt dafür, sie in die Arme nehmen zu können, ihre Stimmen zu hören!
Er hatte längst die Kontrolle über seine Blase verloren; in seinem Darm herrschte seit einer Ewigkeit eine absolute Leere. An den Gestank, den seine Exkremente ver-breiteten, hatte er sich längst gewöhnt.
Er hatte sich wer weiß wie lange das Hirn zermartert, warum er in diese Lage gekommen war. Was war es denn schon, was er da machte?
Er erledigte seine Arbeit, so gut es ihm möglich war, ja besser sogar, als viele seiner Kollegen, auf deren Schreibtischen sich die Akten der nicht entschiedenen Fälle zu bedrohlichen Höhen auftürmten. Da moderten so manche „Altfälle“ aus rein statischen Gründen seit Jahren ungeklärt vor sich hin, um ja nicht die sich darüber auftürmenden Aktenberge zum Einsturz zu bringen. Und wenn dann mal einer dieser unmotivierten und oft auch noch unfähigen Anwälte auf hartnäckiges Drängen eines Mandanten sich dessen unerledigten Falles erinnerte und eine Wiederaufnahme beantragte, dann gerieten die Haufen und somit die Verfahren
noch mehr ins Schwanken. Dann tauchten plötzlich Fälle auf, die ganz schnell wieder verschwinden oder an neue Kollegen verschoben werden mussten…
Nein, er zählte sich zu den Fleißigen seines Berufsstandes. Bei ihm waren die Urteile in der Regel innerhalb eines Jahres nach Klageeingang gesprochen. Und zudem war er anfangs
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immer bemüht, den gegnerischen Parteien ins Gewissen zu reden – dass sie sich doch auch einmal geliebt hatten, dies nicht vergessen und bei allem Zerwürfnis vor allem auch an das Wohl der aus der Ehe hervorgegangenen Kinder denken sollten.
Es war doch nun wirklich nicht ihm anzukreiden, wenn sich immer weniger Paare noch einmal eines Besseren besannen und einen Neuanfang ihrer Beziehung wagten. So war er gezwungener Maßen immer öfter derjenige, der ein Urteil zu fällen hatte, bei dem halt der eine der Ex-Partner das Finanzielle und die andere die Erziehung der Kinder zu übernehmen hatte.
Das war seine gängige Praxis. Sie hatte sich bewährt. Sie schaffte ihm die geringsten Widerstände und Probleme bei den scheidungswilligen Frauen – und auch bei deren Anwältinnen!
Zudem bewegte er sich mit seinen Urteilen stets im Rahmen des gesetzlich gewollten und zulässigen Rahmens. Er informierte sich sogar regelmäßig über die Urteile der Revisionsgerichte; das OLG in Hamm galt ihm als verläss-licher Gradmesser seiner Urteilsfindung.
Und wenn zudem die Anwältinnen auch noch die Nöte ihrer Mandantinnen eloquent vortrugen, dann war er im Rahmen seiner Möglichkeiten gerne bereit, ihren Begehren in seinen Urteilen „vollumfänglich“ zu folgen.
Über die Identität seines Entführers war er sich sehr schnell klar geworden. Es konnte nur der Mann aus der letzten Verhandlung am Freitag sein – dieser Mesch!
Nun gut, er hatte ihm für ein paar Monate auf expliziten Wunsch der Anwältin der Mutter den Zugang zu den Kindern versagt, denn dieser Mesch hatte die Kinder mit seinen ständigen Klagen über die Mutter viel zu starken Gewissenskonflikten ausgesetzt. Mesch wollte auf diese Weise offensichtlich die Kinder auf seine Seite ziehen und sie so der Mutter entfremden. Das konnte er als Richter nicht zulassen, denn schließlich lebten die Kinder seit der Trennung der Eltern vor acht Jahren bei der Mutter, die sich während der Ehe schließlich auch schon
ganztägig um sie gekümmert hatte.
Ein ganz normaler Fall also – tägliche Routine, die er auch so behandelt und entschieden hatte!
Was wollte dieser unselige Mesch jetzt noch von ihm? Ihn etwa dazu zwingen, das Urteil zu revidieren?
Er hatte es doch bereits diktiert und es würde am Montag abgeschrieben und an die Anwälte der Parteien verschickt werden. Da wäre dann selbst für ihn als zuständigem Richter nichts mehr zu machen!
Und war es nicht bereits geschehen?
War nicht schon Montag – oder sogar Dienstag? Es kam ihm so endlos lange vor, dass er hier bereits gefangen war, und von seinem Entführer fehlte jedes Lebens-zeichen!
Krause begann sich in seinen Gedanken damit abzufinden, dass für ihn womöglich das Ende, die letzte Runde, eingeläutet war. Der Kerl hatte ihn hierher verfrachtet – sozusagen endgelagert – und war dann schnell in sein alltägliches Leben zurückgekehrt. So würde seine Tat am wenigsten auffallen. Und während der Mesch ganz gewohnt seinem Alltag nachginge würde er hier allmählich jämmerlich krepieren! Vielleicht bliebe seine Leiche sogar über viele Jahre unauffindbar…
Er hatte schon lange keine Tränen mehr.
Seine Zunge war dick angeschwollen und klebte trocken an seinem Gaumen.
Sein Speichelfluss war längst versiegt.
Jämmerlich verdursten würde er, das war ihm jetzt klar. Stumpfsinnig brummte er vor sich hin, um das monotone Geräusch seines Atems zu übertönen. Da spürte er trotz seiner beginnenden Lethargie eine Bewegung neben sich und im nächsten Moment streifte ihm eine
Hand etwas von den Ohren.
Wie aus weiter Ferne drang eine gedämpfte Stimme an seine Ohren:
„Warum sind Sie hier?“
11
Verblüfft hielt er den Atem an und lauschte. Hatte er da gerade richtig gehört?
Was hatte die Stimme ihn gerade gefragt?
„Warum sind Sie hier?“
Tatsächlich, er hatte richtig gehört, da fragte ihn jemand nach dem Grund seines Hierseins! Er überlegte fieberhaft. Wollte sich der Fragesteller über seine Situation lustig machen oder war er gar von jeman-dem entdeckt worden, der nichts mit der Entführung zu tun hatte und ihn hier in seiner misslichen Lage vor-gefunden hatte?
Neue Hoffnung keimte in ihm auf und sein zusammen-gesunkener Körper straffte sich. „Ich weiß es nicht! Bitte, befreien Sie mich und ziehen Sie mir diese widerliche Maske vom Gesicht!“
Ein unterdrücktes Lachen ließ keinen Zweifel daran, dass er seine zweite gedankliche Variante getrost verwerfen konnte.
„Warum sind Sie hier?“
Da war schon wieder diese absurde Frage. Wie sollte er darauf antworten?
„Ich weiß es nicht! Verdammt, ich weiß es nicht!“ brüllte er in die Gasmaske.
Dann lauschte er mit angehaltenem Atem, aber kein Geräusch drang durch die dicke Gummischicht der Maske zu ihm durch.
War es etwa ein Traum? War da gar kein Mensch, der ihm diese derart abwegige Frage gestellt hatte.
Fing er jetzt schon an durchzudrehen?
Waren das die Vorboten des mit großen Schritten nahen-den Todes?
Fast flehentlich begann er zu hoffen, dass sich die Stimme wieder hören ließ.
„Bitte! Bitte!“
„Warum sind Sie hier?“
„Ich weiß es nicht! Ich habe keine Ahnung, warum ich hier bin! Es geht mir schrecklich! Ich habe Schmerzen und bekomme kaum Luft. Ich habe Hunger und verdurste. Ich kann meine Zunge kaum noch bewegen!“
Ehe er sich dessen bewusst war, was er da gesagt hatte, war es einfach aus ihm hervorgebrochen.
Wieder herrschte Stille – eine unerträglich lange Stille, in der er kaum zu atmen wagte, um die Stimme nicht zu überhören, falls sie sich wieder vernehmen lassen würde.
„Warum sind Sie hier?“
Die gleiche Stimme, die gleiche Lautstärke, die gleiche Betonung – und die gleiche Frage. Er überlegte fieberhaft. Kam die Stimme von einem Band – etwa in einer Endlosschleife? Konnte er antworten, was er wollte, sie würde ihm ab jetzt immer wieder dieselbe unsinnige Frage stellen? Er fragte sich doch bereits seit Ewigkeiten selbst, warum er eigentlich entführt worden war und hatte bislang keine plausible Antwort zu finden vermocht.
„Warum sind Sie hier?“
Diesmal erschien ihm der Klang der Stimme etwas ge-reizter zu sein. Und statt einer Antwort durchlief ein Zittern seinen Körper.
„Hören Sie, ich habe unendlichen Durst. Ich kann kaum noch einen vernünftigen Gedanken fassen. Geben Sie mir doch bitte erst einmal etwas zu trinken, dann werde ich sicher auch Ihre Fragen beantworten können.“
Wieder lauschte er angespannt in die Stille.
Was würde jetzt geschehen? Hatte er den Fragesteller wütend gemacht, und der war einfach wieder ver-schwunden?
Nein, er spürte, dass um ihn herum Bewegungen waren. Jemand hantierte neben und sogar über ihm. Dann bemerkte er, wie etwas gegen die linke Seite der Maske drückte und wenig später schob sich ein dünner Gummischlauch an seine Lippen. Er öffnete den Mund gerade in dem Moment, in dem Flüssigkeit aus der Schlauchöffnung floss. Rasch füllte sich seine Mundhöhle und gierig schluckte er das Wasser. Schluck für Schluck ließ er es durch die ausgedörrte Kehle rinnen.
12
Ihm war noch nie aufgefallen, wo in seinem Hals eigentlich die Speiseröhre verlief. Jetzt spürte er sie in voller Länge und wie das kühle Nass sie wohltuend zu neuem Leben erweckte. Er trank gierig. Sein ganzer Körper schien wie eine ver-dorrende Pflanze wieder zu neuem Leben zu erwachen. Er trank weiter. Mit jedem Schluck schien das längst sirup-artig verdickte Blut in seinen Adern dünnflüssiger zu werden – seine Fließfähigkeit zurückzugewinnen.
Geradezu beglückt spürte er das Kribbeln in seinen Händen und Füßen, die eben noch wie abgestorben schienen.
Er hörte nur noch seine Atemstöße und sein gieriges Schlucken und bemerkte nicht, dass er wieder die Ohrschützer trug.
Samstag, 16.42 Uhr
„Warum sind Sie hier?“
Wie aus einer anderen Welt kam ihr die Stimme vor, die sie aus ihren Grübeleien urplötzlich zurück in die Gegenwart katapultierte.
Sie brauchte ein paar Augenblicke, bis sie kapiert hatte, dass da jemand neben ihr war, der ihr diese Frage gestellt hatte. Ausgerechnet die Frage, die sie sich auch wieder und wieder gestellt und auf die sie bislang keine rechte Antwort gefunden hatte.
„Ich weiß es nicht.“
Ihre Stimme schrillte ihr krächzend und grell in die Ohren.
„Warum sind Sie hier?“
„Weil man mich entführt hat. Waren Sie es etwa? Dann wissen Sie doch besser als ich, warum ich hier bin!“
„Warum sind Sie hier?“
„Weil ich offensichtlich meinen Job zu gut mache und jemand, dessen Anwalt eine Niete ist, nun meint, sich an mir rächen zu müssen!“
„Warum sind Sie hier?“
„Weil Sie nicht kapiert haben, dass Sie mit mir die falsche Person entführt haben! Sie hätten besser Ihre eigene Anwältin entführen sollen. Diese unfähige Figur hat bislang jede Verhandlung gegen mich verloren! Hat sie Ihnen das etwa nicht gesagt?“
Ihre Stimme hatte sich bei den hastig hervorgestoßenen Sätzen fast überschlagen. Ohne zu überlegen, ohne die seit geraumer Zeit sorgfältig zurechtgelegten Formulierungen und Argumentations-ketten war es aus ihr herausgeplatzt – völlig unbeherrscht und ohne, dass sie etwas gegen diesen Wortschwall hätte unternehmen können.
Die nun andauernde lange Stille ließ in ihr den Verdacht aufkommen, dass der Fragesteller mit ihrer Antwort offenbar seine Probleme zu haben schien. War er so verblüfft, dass es ihm die Sprache verschlagen hatte? Hatte sie mit ihren Worten etwa ins Schwarze getroffen?
„Die Männer sind doch alle gleich. Wenn man sie in ihrer Eitelkeit trifft – ihnen ihre Unzulänglichkeiten vor Augen führt, dann bleibt nicht mehr viel von ihrem aufgeblasenen Überheblichkeitsgehabe übrig, “ flog ihr ein Gedanke durch den Kopf, und sie biss sich auf die Zunge, damit sie ihn nicht laut aussprach.
Da hörte sie wieder wie aus weiter Ferne die Stimme.
„Warum sind Sie hier?“
In der Gewissheit, ihren Peiniger mit ihren Worten ver-unsichert zu haben, legte sie nun noch eine Schippe drauf:
„Weil ich es hier so toll finde. Mir fehlt nur noch ein großes Glas mit einem leckeren Cocktail, dann ist mein Glück perf…“
Sie konnte das letzte Wort nicht beenden, denn dazu fehlte ihr die Luft. Die Luftzufuhr durch den Atemschlauch war plötzlich unterbrochen.
Vergeblich versuchte sie, zu atmen und schleuderte in heller Panik den Kopf nach links und rechts zur Seite, um so die Öffnung des Atemschlauchs wieder frei zu bekommen. Vergeblich!
13
Todesangst überfiel sie, doch nicht einmal schreien konnte sie! In dem Augenblick, in dem ihr die Sinne zu schwinden drohten, war die Luftzufuhr unerwartet wieder frei.
Gierig sog sie die Lungen voll und atmete wieder aus. Doch nach dem nächsten Atemzug war schon wieder Schluss. Erneut warf sie den Kopf zu den Seiten und der letzte Rest Luft erzeugte in ihrem Kehlkopf ein erbärmlich klingendes gurgelndes Geräusch.
Einen Augenblick später konnte sie wieder frei atmen!
Tief sog sie die Luft in die Lungen und spürte, wie sich von der linken Seite ein dünner weicher Schlauch zwischen ihre Lippen schob, aus dem im nächsten Moment Wasser in ihren ausgedörrten Mund floss und sie zum Schlucken zwang.
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